
Tage des Sommers

Was tust du, wenn plötzlich nichts mehr so ist, wie es einmal war?
Gerade vergnügte Ella sich noch in der Glamourwelt von L.A., da plant ihr Bruder, das elterliche Anwesen in eine Oldtimer-Werkstatt zu verwandeln, ihre strenge Chefin spielt wegen einer internationalen Kekskampagne verrückt und ihre beste Freundin sitzt ganz schön in der Klemme. Als wäre das nicht genug, trifft sie zurück in der Heimat auf Lucas – den unwiderstehlichen Mistkerl mit den bernsteinfarbenen Augen, der in ihrem Kosmos eigentlich nichts mehr zu suchen hat. Zwischen Autos, Keksen und einem Glücksbringer muss Ella sich ihrer größten Angst stellen, ehe es zu spät ist.
Existieren Dinge, die man nicht sieht, wirklich? Und wenn ja, lohnt es sich, darum zu kämpfen?
Ein spannender Sommerroman unter dem Kölner Sternenhimmel, der für all diejenigen leuchtet, die fest daran glauben, dass die Magie der Liebe stärker ist als das Schicksal.
Intro
Freitag, der 13. | Landeanflug L.A. | Kalifornien
Ich lüge nicht – zumindest nicht absichtlich. Jeder hat doch schon einmal ein bisschen geflunkert, oder? Außerdem war es nur eine winzig kleine Notlüge, so ähnlich wie: »Freitag, der 13., macht mir absolut nichts aus – auch nicht, wenn ich um 13.13 Uhr auf Platz F13 in einem Flugzeug sitze.« 13.13 Uhr und F13 klingen wie aus einem Psychothriller. Ich rutsche auf dem Ledersitz hin und her und stelle den Plastikbecher, den ich bereits halb in meiner Hand zerdrückt habe, auf dem Klapptischchen ab. Dafür, dass wir vermutlich jeden Moment abstürzen, sehen die Stewardessen enorm entspannt aus. Eine der beiden Blonden richtet sich gemächlich die Duttfrisur, so, als sei alles in bester Ordnung, obwohl gleich die Welt untergeht.
Wie konnte mir das nur so entgleiten? Warum bin ich in diesen gottverdammten Flieger gestiegen? Gottverdammt sagt man nicht.
»Natürlich habe ich nichts dagegen, Alex«, hatte ich vor vier Wochen am Telefon zu meinem Bruder gesagt. Selbstverständlich hatte ich etwas dagegen!
Ich erinnere mich, wie ich während des Telefonats locker an meinem Energydrink genippt und die Zutatenliste auf der Dose studiert hatte: ziemlich viel Koffein. Kein Wunder, dass auf der Vorderseite ein roter Superheld abgebildet war. Im Grunde genommen bin ich ja auch so eine Energie-Superheldin. Ich ziehe die rote Strickweste enger um meinen Körper. Meine Superkraft ist, mindestens zwölf Stunden durchgehend arbeiten zu können – das kann nicht jeder.
»Was soll ich schon dagegen haben?«, hatte ich Alex gegenüber bekräftigt. Es klang cool, und ich hätte mir für meine Lässigkeit am liebsten selbst auf die Schulter geklopft – hätte ich mich nur im tiefsten Inneren nicht so zerstört gefühlt.
Hastig kaue ich auf meinem Kaugummi herum, der mittlerweile ziemlich fade schmeckt, und beobachte durch das ovale Fenster, wie die Tragfläche des Flugzeugs samt Triebwerk in einen Wolkenberg eintaucht. Es sieht unwirklich aus, und das ist Fliegen ja auch – schließlich sind wir keine Vögel. Geräuschvoll atme ich ein und wundere mich über den langen Seufzer, der kurz darauf aus meinem Mund strömt. Ich spüre, wie die Maschine absinkt, sich mein Magen zusammenzieht. Achterbahnfahren mag ich im Gegensatz zu meinem Bruder überhaupt nicht, und das hier fühlt sich so ähnlich an. Meine Ohren schmerzen, als jage ein Rennwagen mit quietschenden Reifen durch die Windungen meines Gehörgangs. Ohne zu überlegen, stürze ich den Rotweinrest aus dem Plastikbecher in einem Zug hinunter, meine Kehle brennt.
»Es geht um Leben und Tod, Ella.«
Ella – das bin ich, und ich verstehe mittlerweile voll und ganz, warum meine beste Freundin Marie nicht gerne fliegt. Wobei ich derzeit gar nicht mehr so genau weiß, was sie gerne tut und was nicht. Vieles hat sich in den letzten Wochen verändert, nicht zuletzt Marie.
Gedankenverloren zerre ich meine Handtasche mit der deutlich zu langen Schlaufe aus dem Bodenraum, platziere sie auf meinem Schoß und wühle darin herum. Der Köln-Reiseführer liegt obenauf – der ist wohl jetzt überflüssig. Ein Schlüsselbund mit einem Kölner-Dom-Anhänger? Mist, ich habe versehentlich Maries Haustürschlüssel eingesteckt. Ich lege ihn auf das Tischchen und forste tiefer, stelle mal wieder fest, wie chaotisch das Innenleben meines ledernen Begleiters ist: Lippenpflegestifte, Taschentücher, Kulis, Pfefferminzpastillen und jede Menge Müll. Das erinnert mich irgendwie an mein Leben. Oder zumindest an das, was davon übrig ist.
Das zusammengefaltete Papier, das ich vorsichtig aus meiner Geldbörse fingere, ist marmoriert. Genauso wie das Stück Pappe, auf dessen Rückseite eine glänzende Münze klebt. Aus irgendeinem Impuls heraus presse ich mir beides fest an die Brust, was mir den äußerst irritierten Blick meiner Sitznachbarin einbringt. Die meisten anderen Passagiere schlafen. Die groß gewachsene Frau rückt pikiert ihre Brille auf der Nase zurecht, bevor sie stumm wegschaut.
In meiner Hand halte ich den letzten Hinweis auf das, was Marie sich von Herzen wünscht. Sie verlässt sich auf mich – ausgerechnet auf mich.
»Du musst mir helfen, ihn zu finden. Dann wird alles gut.«
Die Bebrillte neben mir hüstelt und rempelt mich mit ihrem Arm an, den sie wie selbstverständlich auf meiner Armlehne positioniert. »Hoffentlich schafft der Pilot es, zu landen«, brummelt sie. »Miiieses Klima heute, selbst in L.A.« Sie zieht das i übertrieben in die Länge, vielleicht um Was-auch-immer gefühlt noch mieser zu machen. Der Unterschied zwischen Klima und Wetter scheint ihr nicht bekannt zu sein.
»Meinen Sie?« Ich mag negativ denkende Menschen nicht. Es strahlt so etwas Endzeitliches aus, wenn jemand permanent die Mundwinkel hängen lässt und meckert. Mit Schrecken registriere ich, dass ich vermutlich gerade ähnlich dreinschaue. Sofort versuche ich ein Lächeln, das sich wie aufgeklebt anfühlt.
Es geht um Marie, um meine Familie und um ein Gefühl, das ich in dieser Intensität unglaublich lange nicht mehr erlebt habe.
»Die Kraft deiner Gedanken macht den Himmel blau oder grau, hell oder dunkel«, hatte Marie gesagt und dabei die Hände in die Luft gehoben, so als müsse mir das doch klar sein. »Du kannst alles, was dir widerfährt, aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten, Ella. Du bestimmst über dein Leben. Du allein.«
Momentan fühle ich mich eher so, als hätte ich gar keine Kontrolle mehr über mein Leben, geschweige denn als bestimmte ich über irgendetwas. Ich beobachte meine Sitznachbarin – aus nur einer einzigen Perspektive. Mit gesenktem Haupt blättert sie in ihrer Bord-Zeitschrift, lustig sieht sie nicht aus. Vor dem Kabinenfenster türmen sich Wolkenberge, die Maschine wackelt.
»Du hast keinen Grund, Schlechtes zu denken«, plappert Marie in meinen Gedanken weiter. »Den hast du eigentlich nie.« Sie hat recht, natürlich hat sie das.
Wir werden nicht abstürzen.
Wir werden ihn finden, Marie. Ich werde dafür sorgen, dass wir ihn finden.